niederländische Malerei: Eine neue Kunst

niederländische Malerei: Eine neue Kunst
niederländische Malerei: Eine neue Kunst
 
Es ist bis heute kaum begreiflich, wie in der niederländischen Malerei seit etwa 1425 mit den Werken von Jan van Eyck, Robert Campin oder Rogier van der Weyden scheinbar unvorbereitet künstlerische Leistungen auf den Plan treten konnten, die gegenüber den Bildern des »Internationalen Stils« einen radikalen Umbruch, eine ästhetische Innovation bedeuteten. Schon die Zeitgenossen waren von diesem Wandel fasziniert; sie sprachen von einer »nouvelle pratique«, einer »neuen Praxis«, so wie sie angesichts der parallelen Entwicklung der Musik den Begriff einer »ars nova«, einer »neuen Kunst«, prägten. Alle diese Werke galten zur Zeit ihrer Entstehung als »modern«, so wie die zeitgleich aufkommenden Ideen des Nominalismus, wonach nur den Einzeldingen, nicht den Begriffen, Existenz zukommt.
 
Die Werke der frühniederländischen Malerei kennzeichnet ein individualisierender Darstellungsstil, der mikroskopisch genau jedes Detail zu erfassen sucht. Ein besonderes Interesse der Künstler galt der Oberflächenqualität der Dinge, ihrer Stofflichkeit und ihrer sich durch das Licht verändernden Erscheinung. So geschah es wohl kaum zufällig, dass Jan van Eyck mit einer Subtilität ohnegleichen die Reflexe der Beleuchtung auf Spiegeln oder metallischen Gegenständen - wie auf dem Kronleuchter des »Arnolfini-Bildes« - registrierte. Er erfasste aber auch präzis das Schimmern des Lichts auf den Textilien - etwa einem Brokatmantel - oder auf Pelzverbrämungen. Zweifellos spielte hierbei die Kenntnis der physikalischen Optik eine wesentliche Rolle. Das Interesse an den Lichtphänomenen hatte schon im 13. Jahrhundert bei Robert Grosseteste und Roger Bacon eingesetzt. Jan van Eycks Gemälde sind makroskopisch und mikroskopisch zugleich angelegt: Die Gegenstände in der Ferne sind mit der gleichen minuziösen Präzision und Schärfe ausgearbeitet wie diejenigen des Vordergrunds. Für die gänzlich neuartige Gestaltungsweise war indessen nicht allein das physikalisch-optische Moment ausschlaggebend. Die gleichmäßig konstante Genauigkeit hat auch eine ideelle Bedeutung: Sie soll demonstrieren, dass alle Gegenstände - bis hin zu den Pflanzen und Steinen - »Individuen« sind, dass sie alle einen besonderen Wert aufweisen, den eine ästhetische Wiedergabe nicht vernachlässigen darf. Die sorgfältige Erfassung von Details lässt die Dinge freilich erstarren; der Eindruck von Flüchtigkeit kann, obwohl es das Bewusstsein der Zeitlichkeit bei den Künstlern und ihren Zeitgenossen sogar in starkem Maße gegeben hat, über die Faktur nicht aufkommen.
 
Die Bilder der altniederländischen Malerei sind - Farbschicht über Farbschicht - in Lasuren aufgebaut, die nicht decken, sondern transparent sind, sodass ein leuchtender Effekt entsteht. Von »Glanz« ist in Textzeugnissen der Epoche denn auch häufig die Rede. Altes magisches Denken wirkt hier noch nach, die Bewunderung der Strahlkraft der Dinge, mit dem Unterschied jedoch, dass man sich der physikalischen Beschaffenheit der Lichtverhältnisse schon bewusst war. Hinzu kam das Bestreben der Künstler, im Abbild der Dinge deren materielle Qualität zu imitieren. Transparente Lasuren ahmen also emailartig den Lüsterglanz des Glases oder von Metallen nach, die Farbschichten bei der Darstellung des Inkarnats von Gesicht und Händen reproduzieren gleichsam die Schichten der Haut, ihre subkutane Ebene wie auch die Epidermis. Eine wichtige technische Voraussetzung hierfür war die Ölmalerei, deren Erfindung man lange Zeit van Eyck zugeschrieben hat. Aber bereits Lessing konnte 1774 nachweisen, dass Ölbindemittel längst bekannt gewesen waren. Neu war bei van Eyck und seinen Nachfolgern jedoch der konsequente Gebrauch dieses Mediums - anders als bei den italienischen Malern des 15. Jahrhunderts, die bei Tafelbildern noch lange die sehr viel trockener und matter erscheinende Temperatechnik bevorzugten und erst unter dem Einfluss der Niederländer die Ölmalerei aufgriffen (so Antonello da Messina und die Venezianer).
 
Einen entscheidenden Beitrag zur Herausbildung der altniederländischen Malerei leisteten die französischen, niederländischen und frankoflämischen Buchmaler, die für die Höfe in Flandern und Burgund arbeiteten - jener Region, welche durch Heiratspolitik, Erbschaften und Landkauf ihrer Herzöge zu einem der bedeutendsten Wirtschaftszentren Europas aufgestiegen war. Am Hof von Herzog Johann von Berry in Poitiers illustrierte etwa Jacquemart de Hesdin die »Très Belles Heures«. Aus dieser vor 1402 vollendeten Handschrift stammt die berühmte, mit Ornamenten und mit heraldischen Emblemen des Auftraggebers gerahmte Szene der »Flucht nach Ägypten«, die in ihren Landschaften die schematisierende Darstellungsweise der »maniera greca« zu überwinden sucht, auch wenn Felsen, Gewässer und Vegetation noch sehr kürzelhaft gestaltet sind. Neu ist aber schon Jacquemarts Bemühen, in einer »Überschaulandschaft« mit hochgezogenem Horizont Raumtiefe zu erzeugen - ein Moment, das sich noch bei der »Geburt Christi« Robert Campins, des Meisters von Flémalle, bemerkbar machte.
 
Wie Jacquemart standen viele flämische Künstler des frühen 15. Jahrhunderts in höfischen Diensten und waren daher mit eher trivial erscheinenden Aufgaben wie der Bemalung von Standarten oder Sätteln betraut. Sie gehörten als »familiares« zum Gefolge eines Feudalherren, der mehrere Residenzen besaß, viel unterwegs war und es gelegentlich vergaß, sie zu entlohnen. Dieser unzuverlässigen Versorgung suchten die Maler zu entrinnen, indem sie ihre Leistungen einer bürgerlichen Klientel anboten. Auch Jan van Eyck war zunächst »peintre et varlet de chambre«, das heißt Maler und Kammerherr, am Hof Philipps des Guten. In diesem höfischen Amt wurden ihm sogar diplomatische Missionen übertragen, die eng mit seiner künstlerischen Tätigkeit zusammenhingen: So sollte er in Lissabon die Prinzessin Isabella porträtieren, um die sein Brotherr warb. Später jedoch quittierte van Eyck den höfischen Dienst und ließ sich in der reichen Handelsstadt Brügge nieder: 1432, im Jahr der Vollendung des für den Patrizier Jodocus Vijd gemalten Genter Altars, kaufte er sich dort ein Haus. Es kennzeichnet das Selbstbewusstsein der reichen Kommunen, dass sie mit den mächtigen Feudalherren auch in kunstpolitischer Hinsicht zu konkurrieren suchten. So leistete sich die Stadt Brüssel das Amt eines »Stadtmalers«, sozusagen das Pendant zur Funktion des Hofmalers; bekleidet wurde es unter anderem von Rogier van der Weyden, der eine Lehre bei Robert Campin absolviert und - das legt sein Titel »maistre« nahe - vermutlich auch studiert hatte.
 
Ungeachtet ihrer handwerklichen Herkunft und Ausbildung genossen viele Künstler besondere Privilegien, die weit über ihren eigentlichen sozialen Status hinausgingen. Hugo van der Goes, Freimeister in Gent, wurde auch im Ausland geschätzt. Zahlreiche Potentaten umwarben ihn auch noch, als er sich schon als Laienbruder in das Roode Closter bei Brüssel zurückgezogen hatte. Ganz offensichtlich führte die Diskrepanz zwischen dem Wunsch der Künstler nach gesellschaftlicher Anerkennung, der durch die ständige Nachfrage angefacht wurde, und der gleichfalls verinnerlichten religiösen Norm der Bußfertigkeit, Demut und Bescheidenheit zu psychischen Konflikten: Hugo van der Goes litt, wie sein Biograph Gaspard Ofhuys berichtet, unter schweren Depressionen.
 
Von den Werken der frühniederländischen Malerei ist nur ein Bruchteil erhalten. Vieles ging in der Phase des reformatorischen Bildersturms verloren. Nahezu unbekannt ist die Profanmalerei - also solche Szenen, die Alltagssituationen schildern und somit die Genremalerei vorwegnehmen, die als Gattung erst im 17. Jahrhundert aufkam. Lediglich aus schriftlichen Quellen weiß man von einer Fischfangszene, die Jan van Eyck für den Hof der Herzöge von Holland gemalt haben soll, oder von einer »Otterjagd«, die sich im 16. Jahrhundert im Hause des Philosophen Leonico Tomeo in Padua befand. Weltliche Ansätze zeigte auch die Buchmalerei, etwa das »Turin-Mailänder Stundenbuch«, in dem die der Erbauung dienenden biblischen Szenen schon sehr alltagsnah geschildert werden.
 
Zu diesen profanen Motiven, die eine thematische Nähe zu den druckgraphischen Bilderzyklen aus dem späten 15. Jahrhundert erkennen lassen, gehört auch die Gattung des Porträts. In ihrer Frühzeit waren die Bildnisse, wie das Johanns des Guten von Frankreich (um 1362/63), als Profildarstellungen angelegt. Im Gegensatz zu deren Flächenhaftigkeit bevorzugten die Niederländer des 15. Jahrhunderts fast durchgehend die plastischer wirkende Dreiviertelansicht, bei der das Modell meist seitlich aus dem Bild herausblickt. Durch Vermeidung des Blickkontakts mit dem Betrachter wird eine strenge, Distanz schaffende Objektivität gewahrt. Die Bildhintergründe sind oft in raumneutraler Farbigkeit wiedergegeben; gelegentlich werden die Personen in eine Raumecke platziert, etwa neben ein Fenster, das den Blick auf eine Landschaft freigibt. Meist wird der Status der Personen durch Symbole definiert, die - das gehört zu der in Burgund zunächst am Hofe kultivierten Noblesse - sparsam und nicht selten emblematisch als heraldisch-impresenhafte Zeichen eingesetzt werden. Großes Gewicht wird dem Spiel der Hände beigemessen, gemäß einem Gestenkodex, der die Rituale des höfischen Zeremoniells, der kirchlichen Liturgie, aber auch der alltäglichen Konventionen bestimmte. Von vorrangiger Bedeutung ist bei den Porträts die Memorialfunktion, der Wunsch das dauerhaft zu bewahren, was die verfließende Zeit nehmen wird. Die Angstvorstellungen, die sich in diesem Bewusstsein der Vergänglichkeit artikulieren, sprechen auch aus den vielen Totentanzbildern und der Andachtspraxis der »Ars moriendi«.
 
Porträts findet man auch immer wieder auf den großen Altären, auf die sich der Ruhm der altniederländischen Malerei gründet. Es war nicht nur der Wunsch nach Glorifizierung der eigenen Person, der die Stifter - reiche Patrizier oder Kaufleute - veranlasste, sich verewigen zu lassen: sei es (wie beim Genter Altar) in eigens für sie reservierten »Nischen«, sei es (wie beim Portinari-Altar) durch Einbeziehung in das dargestellte sakrale Geschehen. Eine nicht minder große Rolle spielte das Bedürfnis, durch eine auch nach außen bekundete demütige Haltung einen Akt der Buße zu dokumentieren, mit dem sich die Hoffnung auf ein ewiges Seelenheil verband.
 
Den großen Altären, aber auch den zahlreichen Reisealtärchen und Diptypchen, liegt - wie die neuere Forschung glaubhaft machen konnte - ein ausgeklügeltes theologisches Programm zugrunde. Erwin Panofsky sprach in diesem Zusammenhang von einem »disguised symbolism«, einer verhüllten Symbolik, die in allen auch noch so trivialen Gegenständen oder Handlungen einen tieferen, geistlichen Sinn aufscheinen lässt, der sich häufig aus ihrer Form oder Funktion ableitet und alle Realien theologisch überformt. Der Ofenschirm etwa, vor dem Robert Campins Madonna sitzt, ersetzt deren Heiligenschein. Man hat es mit einem ambivalenten Vorgang zu tun: Die gewollte Spiritualisierung schlägt in eine Trivialisierung um, wie umgekehrt im Alltäglichen die Ahnung einer höheren Heilsgewissheit aufblitzen soll. Wie man aus der Entstehungsgeschichte des Abendmahlaltars von Dieric Bouts weiß, war dessen Bildprogramm von zwei Theologieprofessoren ausgeklügelt worden. Ähnliches darf man auch bei vielen anderen religiösen Bildern vermuten.
 
Diese müssen auch im Kontext der vorreformatorischen Frömmigkeit gesehen werden, für die das Verlangen nach einer Teilhabe der Laien am kirchlichen Geschehen charakteristisch war. Eng verbunden war damit eine hochgradig mystische Ausrichtung der Glaubenspraxis, wie sie besonders im theologisch-ethischen Konzept der Windesheimer Reformkongregation zum Ausdruck kam, deren Gedankenwelt die Ikonographie der Bilder weitgehend bestimmte. Nicht von ungefähr wurde - lange vor Luther und Calvin - die Eucharistie ins Zentrum der visuellen Reflexion gerückt: Auf dem unteren Teil der Mitteltafel des »Genter Altars« etwa bewegen sich die Heerscharen der Kirche prozessionsartig auf das mystische Lamm zu. Gerade um die Auslegung des Abendmahls und die liturgische Praxis wurde seit Jan Hus zwischen Klerus und Laien ein erbitterter Kampf geführt. Hinter all diesen Auseinandersetzungen verbargen sich oft handfeste Interessen, welche auf sozialen Gegensätzen beruhten, die an Schärfe gegen Ende des Jahrhunderts noch zunahmen.
 
Prof. Dr. Norbert Schneider
 
 
Ausklang des Mittelalters, 1380—1500, Beiträge von Roland Recht und Albert Châtelet. Aus dem Französischen. München 1989.
 
Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, Beiträge von Hans Belting und Christiane Kruse. München 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

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